newsletter 30. Mai 2008
Wann ist ein Reifen ein Winterreifen?
Gerichtsurteil: „M+S-Reifen nicht zwingend Winterreifen“
Mit der Frage, wann ein Reifen als Winterreifen zu bezeichnen ist,
hat sich nach Informationen der Neue Westfälischen kürzlich das
Amtsgericht ein Bad Oeynhausen befasst. Den Anlass für den
dahinter stehenden Rechtsstreit hat demnach der Verkauf eines
Satzes M+S-Reifen für Geländewagen über die Internetplattform
eBay geliefert. Der Verkäufer hatte dem Bericht zufolge die Reifen
als Winterreifen bezeichnet, aber die spätere Käuferin aus dem
Würzburger Raum soll zwei Wochen nach dem Erwerb reklamiert
haben, dass es sich bei den fraglichen Reifen nicht um
Winterreifen handele, obwohl sie ein M+S-Symbol auf der
Seitenflanke tragen. Deswegen haben sie den Verkäufer auf
Rücknahme der Pneus verklagt und bekam vom Amtsgericht Bad
Oeynhausen recht. Bei seinem Urteil beruft sich das Gericht
offenbar auf ein von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten. „Danach
ist die Kennung als M+S-Reifen nicht zwingend mit der Eignung als
Winterreifen gleichzusetzen. Vielmehr signalisiert nur das auf der
Reifenwand aufgebrachte Schneeflockensymbol die
nachgewiesene Wintereigenschaft des Reifens“, zitiert die Zeitung
aus der Urteilsbegründung.
In einer Stellungnahme gegenüber dem Blatt soll Hans-Jürgen
Drechsler, Geschäftsführer des Bundesverbandes Reifenhandel
und Vulkaniseur-Handwerk e.V. (BRV), dies als „Quatsch“
bezeichnet und auf die entsprechenden Richtlinien auf
gesamteuropäischer, EU- sowie nationaler Ebene verwiesen
haben. „Dort heißt es: Winterreifen sind mit dem M+S-Symbol zu
kennzeichnen“, werden Drechslers Aussagen wiedergegeben.
Doch gilt tatsächlich auch der Umkehrschluss bzw. sind M+SReifen
gemäß einer gesetzlichen Grundlage automatisch mit
Winterreifen gleichzusetzen? Dies bejaht wie Drechsler auf
Nachfrage der NEUE REIFENZEITUNG unter Bezug auf ECE-R 30
Pkt. 2.2 (Begriffsbestimmungen) bzw. die EU-Richtline 92/23 EWG,
Anhang II, Pkt. 2.2 (Begriffsbestimmungen) ganz klar.
„(Ein) M+S-Reifen ist ein Reifen, bei dem das Profil der Lauffläche
und die Bauart so ausgelegt sind, dass das Verhalten in Matsch
und frisch gefallenem oder schmelzendem Schnee besser als bei
normalen Straßenreifen ist. Das Profil der Lauffläche eines M+SReifens
ist im Allgemeinen durch größere Profilrillen und/oder
Stollen gekennzeichnet, die voneinander durch größere
Zwischenräume getrennt sind, als dies bei einem normalen
Straßenreifen der Fall ist“, zitiert der BRV-Geschäftsführer die
entsprechende Textpassage der Richtlinien. „Was es allerdings
nicht gibt, ist ein Prüfprozedere im Rahmen der
Typengenehmigung der Reifen nach ECE-R 30 oder EU-Richtlinie
92/23/EWG, das sozusagen den Nachweis erbringt, dass die
Begriffsbestimmung – dass das Verhalten in Matsch und frisch
gefallenem oder schmelzendem Schnee besser als bei normalen
Straßenreifen ist – beim betreffenden und entsprechend
gekennzeichneten Reifen auch tatsächlich eingehalten wird“, so
Drechsler weiter.
Solange also nicht entweder die Reifenhersteller selbst oder aber
der Gesetzgeber die ECE-R 30, auf welche die EU-Richtlinie 92/23
und die Straßenverkehrszulassungsordnung Bezug nähmen, um
ein solches Prüfprozedere ergänzten, sei es theoretisch möglich,
dass von Reifenherstellern zurzeit noch – insbesondere für den
USA-Export gedachte – typengenehmigte Sommerreifen auch mit
dem M+S-Symbol gekennzeichnet würden. „Allerdings – und das
muss ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen – sind uns aus der
Praxis bis dato de facto keine maßgeblichen Fälle (allerhöchstens
Einzelfälle) bekannt, in denen am deutschen Markt Sommerreifen
mit M+S-Kennzeichnung in Verkehr gebracht worden wären“, weiß
Drechsler zu berichten. Schließlich habe man die eigenen
Mitglieder diesbezüglich eindeutig aufgeklärt.
„Kritisch sehen wir in diesem Zusammenhang allerdings noch den
Bereich Offroad-/4x4-Bereifung, wo nach wie vor – hier in erster
Linie von den maßgeblichen Reifenherstellern – Profile mit M+SKennzeichnung
angeboten werden, die keine Winterprofile sind,
was wohl mit dem hohen USA-Exportanteil bei diesen Reifen
zusammenhängt“, ergänzt er. Theoretisch sei daher denkbar, dass
es sich – so Drechsler gegenüber der Neue Westfälischen – bei
den fraglichen Reifen in dem Bad Oeynhausener Gerichtsverfahren
um US-Importe handele. „Denn hier werden grundsätzlich alle
Reifen mit dem M+S-Symbol gekennzeichnet. Das hat dazu
geführt, dass hier das Schneeflockensymbol als freiwilliger
Industriestandard eingeführt wurde“, erklärt der BRVGeschäftsführer
den Sachverhalt in dem Beitrag des Blattes. „Man
muss beachten, dass es einerseits in den USA und Kanada eine
gesetzliche Vorschrift für das Schneeflockensymbol gibt“,
verdeutlicht er und weist auf das dabei zugrundeliegende
Prüfprozedere nach ASTM E 1136 – das Akronym ATSM steht für
American Standard for Testing and Materials – in Bezug auf einen
Referenzreifen (Uniroyal „Tiger Paw“ in der Dimension und 195/75
R14).
„Andererseits gibt es die WdK-Initiative (d.h. der dort
angeschlossenen Reifenhersteller), auch in Deutschland und in
Europa auf freiwilliger Basis das Schneeflockensymbol
einzuführen“, meint Drechsler. Dies sei in der Praxis – zumindest
für Deutschland – bereits die Regel, allerdings wohl mit einem
modifizierten/aktualisierten Prüfprozedere zum ASTM E 1136, fügt
er hinzu. Darüber hinaus habe sich der Wirtschaftsverband der
deutschen Kautschukindustrie e.V. (WdK) das
Schneeflockensymbol zwischenzeitlich als Warenzeichen schützen
lassen, was dessen Hauptgeschäftsführer Fritz Katzensteiner auf
Anfrage dieser Fachzeitschrift denn auch bestätigt. „Wir haben das
Schneeflockensymbol in Deutschland und nach Beratungen mit
unserem europäischen Dachverband ETRMA (European Tyre and
Rubber Manufacturers’ Association) auch in Europa als Marke
eintragen lassen“, so Katzensteiner.
Die Kennzeichnung mit einem entsprechenden Logo auf der
Seitenwand soll der hinter diesem Schritt stehenden Logik zufolge
denjenigen von WdK- und ETRMA-Mitgliedern bzw. an deren
außereuropäischen Standorten produzierten Reifen vorbehalten
sein, die einen an das ASTM-Prüfverfahren angelehnten Test –
gemäß dem Verfahren in Nordamerika muss mit einem Reifen zum
Erhalt des Schneeflockensymbols beim Bremsen auf Schnee ein
um mindestens sieben Prozent höherer Verzögerungswert erreicht
werden als mit dem Referenzreifen – erfolgreich durchlaufen
haben. Das genaue Vorgehen bei dem Prüfverfahren befinde sich
jedoch noch in der Diskussion, beispielsweise sei ein anderer
Referenzreifen als der bisherige im Gespräch. Noch ist jedenfalls
nichts fix.
Insofern könnten das Bad Oeynhausener Urteil und die
gleichzeitigen Bestrebungen des WdK doch als erster kleiner
Schritt in die richtige Richtung gewertet werden, um dem
Verbraucher mehr Sicherheit bei der Beurteilung zu geben, was
denn nun genau ein Winterreifen ist, oder etwa nicht? Vom
Grundsatz her sieht zwar auch Drechsler dies so. Doch wenn die
(WdK)-Schneeflocke geschützt sei, hätten nicht im WdK (bzw.
ETRMA) vertretene Reifenhersteller keinen Zugriff darauf. „Und
man darf auch dabei nicht vergessen, dass es sich hier um
Eigenprüfungen der jeweiligen Reifenhersteller handelt und nicht
um neutrale Überprüfungen, wie zum Beispiel im Rahmen des
Typengenehmigungsverfahrens. Dementsprechend sehen wir das
Schneeflockensymbol in Deutschland zwar als nützlich an, aber
nach wie vor auch sehr kritisch, da es – als WdK-Label – nicht die
grundsätzlichen Probleme – insbesondere für den Verbraucher –
löst“, meint der BRV-Geschäftsführer.
„Wir fordern daher schon seit Längerem – auch im Sinne der
Chancengleichheit für alle Anbieter – die Einführung eines
Prüfprozedere/Prüfverfahrens im Rahmen der Typengenehmigung
nach ECE-R 30 oder EU-Richtlinie 92/23/EWG, nur damit wäre
grundsätzlich abgesichert, dass jeder M+S-gekennzeichnete
Reifen auch tatsächlich ein Winterreifen ist“, ergänzt er. Bis es
soweit ist, wird man wohl oder übel – so scheint es jedenfalls –
weiterhin mit einem gewissen Maß an Uneindeutigkeit leben
müssen. „Für die Polizei ist es bei Kontrollen zwar das Indiz, dass
es sich um Winterbereifung handelt. Faktisch gibt es aber auch
Reifen auf dem Markt, vor allem aus asiatischer Produktion, die
trotz M+S-Symbol keinerlei Wintereigenschaften haben. Das ist
schon eine Grauzone“, hat beispielsweise Ralf Collatz,
Pressesprecher des ADAC in Ostwestfalen, die Problematik
gegenüber der Neue Westfälischen umrissen und Verbrauchern
angesichts dieser „unübersichtlichen Lage“ geraten, sich am
besten an den Fachhandel zu wenden.
Der schuldig gesprochene Reifenverkäufer will sich angesichts
dessen aber anscheinend nicht mit dem Richterspruch abfinden,
sondern hat angekündigt, in Berufung gehen zu wollen. Zu diesem
Zweck ist er auch auf Suche nach möglichen Mitstreitern, die – so
die Zeitung – „ähnliche Erfahrungen mit der undurchsichtigen
Kennzeichnung von Winterreifen gemacht haben“. Dies zeigt, dass
– zumindest bei einem Teil der Verbraucher – in der Tat noch nach
wie vor Verwirrung darüber besteht, was denn nun eigentlich ein
Winterreifen ist. Die Beantwortung dieser Frage könnte vor dem
Hintergrund der schwammigen Formulierung in der
Straßenverkehrsordnung (StVO), wonach die Ausrüstung eines
Kraftfahrzeuges den Witterungsverhältnissen anzupassen ist und
dabei insbesondere auf eine „geeignete Bereifung“ explizit
hingewiesen wird, irgendwann einmal durchaus von mehr als nur
akademischem Interesse sein.
Zwar interpretiert die überwiegende Mehrheit der Branche die
StVO in dem Sinne, dass der Gesetzgeber wohl den Einsatz von
Winterreifen bei winterlichen Straßenverhältnissen und
entsprechend Sommerreifen in den wärmeren Monaten des Jahres
gemeint hat. Doch selbst wenn sich zwei im Falle eines Falles vor
Gericht streitende Parteien hierüber einig wären, zeigt das Bad
Oeynhausener Urteil, dass die Meinungen darüber was denn nun
ein Winterreifen ist, durchaus unterschiedlich sein können. Paradox
wird die ganze Sache übrigens, wenn der BRV entgegen aller
schlüssig vorgebrachter Argumente Ganzjahresreifen „statistisch
gesehen“ zu den Sommerreifen rechnet, obwohl sie die M+SKennung
tragen und damit – wie auf den Webseiten des
Branchenverbandes nachzulesen ist – „de facto als akzeptable
Alternative zu reinen Winterreifen gesehen werden – von
Verbrauchern, aber auch im Sinne der Forderung nach ‚geeigneter
Bereifung‘“