Radfahren in Lviv - Ukraine

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Ulrike
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Radfahren in Lviv - Ukraine

Beitrag von Ulrike »

Guten Abend zusammen,

einem netten Artikel in der ZEIT entnehme ich, dass Lviv die Fahrrad-Hauptstadt der Ukraine seien möchte:
Bis 2020 soll dort ein Radwegenetz von 278 Kilometern entstehen. Man möchte besser werden als Kopenhagen, was das Verhältnis Radwege zu Straßen anbelangt. 10 Kilometer neue Radwege wurden in der Innenstadt schon asphaltiert. Deutschland gab 700 000 Euro dazu. Für das nächste Jahr ist die weitere Finazierung ungewiss.
Deshalb ist Radfahren in der Innenstadt noch höchst lebensgefährlich.

Ich finde Lviv hat ein großartiges Ziel, ich wünsche mir dass sie es erreichen!

Grüße aus Lalo
Ulrike
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Beda
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Re: Radfahren in Lviv - Ukraine

Beitrag von Beda »

Hallo zusammen,
hier der Artikel:
www.zeit.de hat geschrieben:Ukraine

Flucht vor dem Kopfsteinpflaster

Lwiw hat sich zur Fahrrad-Hauptstadt der Ukraine proklamiert. Eine Probefahrt mit Hindernissen. von Diana Laarz
6. November 2013 13:16 Uhr

Schon nach drei Minuten im Sattel habe ich Lust aufzugeben. Lwiw nennt sich zwar "Fahrrad-Hauptstadt" der Ukraine, aber ich bewege mich kaum vom Fleck. Binnen kürzester Zeit kommt es zu Beinahezusammenstößen mit Bimmelbahnen, Taubenschwärmen, Kutschen und kutschenbewundernden Touristen. Entnervt steige ich wieder ab.

Lwiw wird in Reiseführern gern als schlafende Schöne des Ostens beschrieben. An diesem sonnigen Nachmittag ist die Schöne definitiv wach; sie wirkt geradezu aufgeputscht. Das Kopfsteinpflaster der Innenstadt ist kaum zu sehen, so viele Leute schlawinern darauf herum. In der Mitte des Marktplatzes protzt das Rathaus, gebaut in einer Zeit, als Lwiw noch österreichisch war, Lemberg hieß und öfter mal Besuch vom Kaiser bekam. Die Bürgerhäuser rundherum stehen vielfarbig Spalier, davor ballt sich der touristische Betrieb. Fahrrad fahren ist ausgeschlossen. Kann Lwiw wirklich das Beste sein, was die Ukraine Fahrradfahrern zu bieten hat? Wie steht es dann wohl um den Rest des Landes?

"Viel, viel schlechter!" Das hat mir Oleh Schmid bereits am Tag zuvor versichert, als wir in einem hohen, stuckverzierten Saal des Rathauses zusammentrafen. Der Saal, betonte er, diene meist zum Empfang hochrangiger Delegationen. Ich sollte mich geehrt fühlen: so viel Aufmerksamkeit für jemanden, der in Lwiw nur mit dem Fahrrad fahren möchte.

Oleh Schmid arbeitet als Berater des Bürgermeisters für die Entwicklung der Fahrrad-Infrastruktur. Er ist 52 Jahre alt, trägt blond gefärbte Haare und ist schon deshalb stolz auf seinen Job, weil niemand sonst in der Ukraine ein ähnliches Amt bekleidet. Seinen Posten bekam er im Vorfeld der Fußballeuropameisterschaft 2012, als in der Ukraine vieles möglich schien. Schmid ist studierter Ingenieur, hat aber zuletzt vor allem als Journalist gearbeitet. Man wusste, dass er in seinen Urlauben europäische Fernradwege abfuhr, von Stettin nach Oslo etwa, 100 Kilometer am Tag. Das genügte als Einstellungsgrund. Danach lief vieles nicht so gut wie erwartet, aber immer noch besser als anderswo. Lwiw hat inzwischen 30 Kilometer Fahrradwege, Kiew hat 15.

Ich würde jetzt gern mal einen dieser 30 Kilometer sehen. Aber in der Fahrrad-Hauptstadt scheint das nicht so einfach zu sein. Mittlerweile habe ich das Zentrum der Altstadt verlassen und den Stadtteil Galitskij erreicht. Das Fahrrad kommt nun wenigstens zum Einsatz. Die Straßen sind menschenleer – ein geheimnisvoller Bann hält die Touristen offenbar zwischen Rathaus, armenischer Kathedrale und Oper gefangen. Auf einmal sehe ich, was ich vorher nicht wahrgenommen habe, weil ich nur Augen für Autoreifen, Kinderwagen und Verkehrsampeln hatte: die Lwiwer Secession.

Ich radle an Fassaden vorbei, die geschmückt sind mit Mosaiken und bunten Gläsern. Türmchen gucken keck aus Dachschrägen. Auf den gusseisernen Balkonen geben sich die Blumen zum Ende des Herbstes noch einmal richtig Mühe. Die Lwiwer haben die Secession nicht einfach aus Wien übernommen, sondern ihr mit Bautraditionen aus den Ostkarpaten ein eigenes Gesicht gegeben, das einem von gemusterten Schindeldächern oder keramisch ornamentierten Mauern entgegenstrahlt. Buchhandlungen, Apotheken und Kinos in Galitskij wirken so, als gehörten sie noch zur einstigen Hauptstadt des Königreiches Galizien und Lodomerien unter der Habsburger Monarchie.

Ich strampele die Dragomanowa-Straße entlang, in langsamem Tritt bei leichter Steigung, und kann mich nicht sattsehen an diesen Häusern mit ihrem altertümlichen Gepränge. Von Oleh Schmids Radwegen fehlt noch immer jede Spur. Leider hat mein Fahrrad einen Sattel, der sich hart wie Stahl anfühlt. Nach 20 Minuten Ritt über das Lwiwer Kopfsteinpflaster tut mir der Hintern weh.

Das Beste, was man über Lwiws derzeitiges Fahrradverleihsystem sagen kann: Es ist vorhanden. Es scheint allerdings nicht für Menschen wie mich gedacht, die es sich auch gern mal auf dem Fahrrad bequem machen. Vier Ausleihstationen gibt es in der Innenstadt. An der Station nahe dem Rathaus hat mir ein lethargischer junger Mann den Pass abgenommen ("Den brauche ich als Pfand, sonst sehe ich das Fahrrad nie wieder") und für umgerechnet 4,50 Euro zwei Stunden lang ein Mountainbike überlassen. Dieses Mountainbike hat keine Schutzbleche, keinen Ständer, dafür eine bockige Gangschaltung und eine zögerliche Bremse. Ich gehe dazu über, wie Fred Feuerstein zu bremsen, mit den Füßen auf dem Boden.

Oleh Schmid verhandelt gerade mit einer Dresdner Firma, die ein Leihsystem mit automatischen Schlössern und Kreditkarten-Bezahlung nach Lwiw exportieren soll. Hoffentlich liefert die auch ordentliche Räder an.


Am Vortag hatte sich Schmid bei der Präsentation seines Radwegekonzeptes richtig in Rage geredet. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn nicht mehr für einen Spinner hielt, sondern für einen Mann mit einem Traum. Schmid zeigte Fotos aus dem Lwiwer Alltag von verstopften Altstadtstraßen, von Autos, die auf den Gehwegen parkten, vom Dauerstau. Dann malte er genüsslich dicke rote Kreuze über die Autos und zeigte ein neues Bild, auf dem Fußgänger, Radfahrer und vereinzelte Autos friedlich nebeneinander existierten. Ein Hauch ukrainischen Revolutionsgeistes lag in der Luft, als Schmid die erste Einbahnstraße der Ukraine erwähnte, die Fahrräder in Gegenrichtung befahren dürfen. Seine Idee natürlich. Die Konzepte für neue Radwege zeichnet Oleh Schmid am liebsten selbst und lässt sie dann von Verkehrsplanern nur noch abnicken.

Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele von Lwiws 760.000 Einwohnern Fahrrad fahren. Oleh Schmidt zufolge aber steigern die Fahrradläden der Stadt ihren Umsatz Jahr für Jahr um 40 Prozent. Vor dem Rathaus wurde gerade ein neuer Fahrradständer aufgestellt. Auch manche Mitarbeiter des Bürgermeisters radeln nun zur Arbeit, Oleh Schmid tut es sowieso.

Ich selbst habe Räder vor Cafés stehen sehen, und ab und zu kreuze ich die Wege anderer Radfahrer, wir nicken uns zu wie Verschwörer. Inzwischen bin ich in den Stryjskij-Park eingebogen. Auf einer Platanenallee erreiche ich eine zuvor ungeahnte Geschwindigkeit. Das Rad bekommt jetzt richtig Auslauf. Ein Surren begleitet mich, fast scheint es, als würde das bislang so ungeliebte Mountainbike vor Behagen schnurren. Buntes Laub liegt über den Weg verstreut, die Sonne bringt das letzte Grün in den Bäumen zum Leuchten. Vorbei geht es an Teichen mit dahingleitenden Schwänen zu einem Springbrunnen, über dessen Fontäne sich ein kleiner Regenbogen spannt.

Der Stryjskij-Park ist einer der ältesten und schönsten der Stadt, er stammt noch aus jener Epoche verschwenderischen Reichtums, in der Lwiw als wichtiges Handelszentrum galt. Was Venedig für die mittelalterlichen Händler im Süden Europas war, war Lwiw im Osten während des 18. und 19. Jahrhunderts – ein Platz, an dem man neben den eigenen Waren auch noch die eigene Wichtigkeit ausstellen wollte. Das gelang besonders gut mit einem nicht allzu bescheidenen Palais am Fuße des alten Burgberges, und wuchtige Patrizierhäuser flößen noch heute allerorten Respekt ein. Den gewaltigsten Bau ließ sich der griechische Händler Konstantin Korniakt errichten. Er machte den Lwiwern nicht nur den Wein seiner Heimat schmackhaft, sondern hinterließ der Stadt auch einen Palazzo mit Säulengängen und Innenhof, der heute ein Teil des Historischen Museums ist.

Im höher gelegenen Abschnitt des Parks wirft sich die ansonsten flache Landschaft hügelig auf. Nun wird Radfahren fast zur sportlichen Herausforderung. Als ich auf einer Parkbank für einige Minuten verschnaufe, bemerkt ein Fußgänger mein Leihfahrrad. Wo ich das denn herhätte? Er wohnt in Lwiw, aber von Ausleihstationen hat er bisher nichts gehört.

Oleh Schmids Mission steht der große Durchbruch noch bevor. In der Zwischenzeit blickt er auf das bisher Erreichte bereits zurück wie auf eine lange, wechselvolle Geschichte. Sein erstes Jahr, 2011, sei das "Jahr der Hoffnung" gewesen. "Damals dachten wir, wir würden 100 Kilometer Radwege pro Jahr bauen". Schnell stellte sich allerdings heraus, dass nur ein Bruchteil des Geldes, das die ukrainische Regierung vor der Fußball-EM für die Modernisierung der städtischen Infrastruktur versprochen hatte, wirklich fließen würde. Doch die Lwiwer Stadtversammlung hatte seinerzeit bereits beschlossen, in Fahrradwege zu investieren, es gab sogar schon ein Entwicklungskonzept. Der stellvertretende Bürgermeister leitete die Arbeitsgruppe, der Bürgermeister war selbst Radfahrer, ein Rückzug kam nicht mehr infrage. Die Lwiwer wollten sich nun einmal "Fahrrad-Hauptstadt der Ukraine" nennen. Also machten sie einfach weiter.

2012 war das "Jahr der Planung". 2013 das "Jahr der langen Wege". Entlang der Verbindungsstraßen der Wohnbezirke zur Innenstadt wurden über zehn Kilometer neue Radwege asphaltiert. Deutschland unterstützte das Projekt mit etwa 700.000 Euro. Für das kommende Jahr gibt es noch keine garantierte Finanzierung, aber Oleh Schmid ist sich sicher, dass er irgendwo Geld auftreiben wird.

Im Jahr 2020 soll Lwiw ein Radwegenetz von 278 Kilometern haben, so sieht es Schmids Plan vor, der auch der Plan der Stadt ist. Dann entspräche das Verhältnis von Straßen zu Radwegen in etwa dem von Kopenhagen. Wer heute mit dem Fahrrad durch Lwiw rumpelt, der mag den Plan für reine Fantasterei halten. Oleh Schmid dagegen glaubt fest an sein Ziel, und wer ihm mit Zweifeln kommt, dem sagt er sogar: "Wir wollen noch besser werden als Kopenhagen."

Information

Die Ukraine unterhält kein Fremdenverkehrsbüro in Deutschland. Die Touristeninformation Lwiw erreicht man unter http://www.lviv.travel" onclick="window.open(this.href);return false; und telefonisch unter 0038-032/254 60 79.

Auf http://www.veliki.ua" onclick="window.open(this.href);return false; findet man eine Karte der Lwiwer Fahrradleihstationen.


Ich habe mich inzwischen zurückgewagt in die Innenstadt. Und meine Geduld wird endlich belohnt: Ich lande tatsächlich auf einem der städtischen Radwege. Er war kaum zu übersehen. Weil in der Ukraine Verkehrsschilder für Fahrradwege noch ungewohnt sind, lenkt ein kleiner Schilderwald alle Verkehrsteilnehmer in die für sie vorgesehenen Bahnen. Meine Bahn ist mit flachen Pflastersteinen gelegt, die sich geradezu elegant ins Stadtbild einfügen.

Die Fußgänger machen sich trotzdem ungeniert auf dem Radfahrstreifen breit. Glücklicherweise hat das Mountainbike wenigstens eine Klingel. Die muss ich jetzt benutzen, um mir freie Bahn zu verschaffen. So rolle ich wieder in die Altstadt hinein, ganz ohne Geholper und ohne tief abstürzende Bordsteinkanten. Ich muss mich nun beeilen, um mein Fahrrad rechtzeitig wieder abzugeben. Der junge Mann an der Ausleihstation wirkte nicht wie jemand, der Verständnis hätte für die Ausrede, mir sei bei der Suche nach Radwegen die Zeit davongelaufen. Ich biege auf den Siegesprospekt ein, die Haupthandelsstraße der Innenstadt, und entdecke einen Radweg, der mir ganz allein gehört. Besser als Kopenhagen, denke ich. Doch plötzlich, nach 300 Metern, endet der Weg abrupt in einer Schotterpfütze. Mit Bremse und Fuß komme ich gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Ratlos blicke ich in die Runde. Wollte man mich womöglich in eine Falle locken? Von allen Seiten scheinen Menschen, Tauben und Kutschen wieder näher zu rücken. Auf dem Fahrrad traue ich mich keinen Meter weiter. Oleh Schmid, bitte helfen Sie!
Grüße vom Galloperflüsterer ohne Galloper

Beda

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