1913

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Beda
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1913

Beitrag von Beda »

Hallo zusammen,
das war dieses Jahr meine Urlaubslektüre:
Funkelnde Tage

Florian Illies erklärt uns das erstaunliche Jahr 1913. Von Hans von Trotha
10. Dezember 2012

Das Jahr 2014, und mit ihm die Erinnerung an den ersten großen Kriegsausbruch des 20. Jahrhunderts, wirft seine Schatten voraus. Da wirkt es wie der Coup eines ausgebufften Medienprofis, mit dem Titel 1913 vorzupreschen. Florian Illies ruft in seinem neuen Buch gleich den Sommer des Jahrhunderts aus. Und er überrascht, ja überrumpelt mit einer intelligent arrangierten Materialwucht, die der vollmundigen Ankündigung nicht nur standhält, sondern die in ihrer Fülle, Vielfalt, Originalität und tieferen Bedeutung überzeugt.

Prousts Recherche, Musils Mann ohne Eigenschaften, Joyce’ Ulysses, Thomas Manns Zauberberg, Kafkas Briefe an Felice Bauer haben Wurzeln im Jahr 1913. Die Künstlergruppe Brücke löst sich auf. Gertrude Stein schreibt: »Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose«. Die Mona Lisa wird gestohlen. Max Weber diagnostiziert die Entzauberung der Welt, Oswald Spengler den Untergang des Abendlandes, und Adolf Loos erklärt das Ornament zum Verbrechen. In Paris kracht das althergebrachte Kulturgefüge in der legendären Uraufführung von Strawinskys Le Sacre du Printemps spektakulär zusammen. Kokoschka malt Alma Mahler-Werfel, Kirchner die erste Berliner Straßenszene, Malewitsch das Schwarze Quadrat. Büchners Woyzeck wird uraufgeführt, die Firma Prada gegründet, die Droge Ecstasy erfunden, der erste Aldi-Markt eröffnet: Es funkelt nur so vor Entdeckungen. Es ist nicht zuletzt die schiere Masse gleichzeitig sich abspielender Ereignisse, die Illies’ 1913 und sein Jahr 1913 ausmacht.

»Tempel der irritierenden Gleichzeitigkeit« – mit dieser Formulierung charakterisiert Florian Illies die Sammlung des Kunsthistorikers Julius Meier-Graefe. Illies hat, voller Begeisterung, sein Jahr 1913 als einen solchen Tempel inszeniert. Er lässt uns an seinem Staunen teilhaben. In kurzen Abschnitten reiht er Momentaufnahmen aneinander, dem Jahresverlauf folgend. Nur wenigen Geschichten gönnt er zwei, drei Seiten. Es herrscht eine Dichte von enormer Sprengkraft.

Illies arrangiert, inszeniert, pointiert. Mit welchem Ziel? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Historische Analyse ist es nicht. Er will nicht verstehen, nicht erklären, keine Zusammenhänge herstellen, die sich nicht von selbst (oder wie von selbst) einstellen. Er will funkeln. Er will die Gleichzeitigkeit nicht auf ihre Bedeutung hin befragen, sondern zum Glänzen bringen. Das gelingt ihm. Aber es hat seinen Preis. So objektiv die Materialsammlung sich gibt, so subjektiv ist sie am Ende doch. Sie folgt der Vision eines Kunsthistorikers und, mehr noch, Kunstliebhabers. Es ist das Geschichtsbild eines Feuilletonisten. Im Gegensatz zum Historiker kann der heranziehen, was ihn interessiert, anregt, amüsiert. Er unterliegt keiner Verpflichtung zur Vollständigkeit, keinem Gebot der Ausgewogenheit. Die Sammlung des Feuilletonisten ist eine pointillistische Impression, die das Missverständnis in Kauf nimmt, für eine historische Bestandsaufnahme gehalten zu werden.

Es ist gewagt, das Jahr vor der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts mit einem feuilletonistischen Feuerwerk auszuleuchten. Aber es funktioniert. Der Kitt, der die Splitter zusammenhält, ist die Brillanz des Arrangements. Die zeigt sich gerade da, wo der Autor sich zurücknimmt. Macht er dagegen mit launigen Zwischenbemerkungen wie »Soso« oder »Nun aber schalten wir zu Arnold Schönberg« auf sich aufmerksam, verliert sie an Überzeugungskraft.

So ganz traut Illies seinem Prinzip, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen für sich sprechen zu lassen, nicht. Er sucht nach Formulierungen, Begriffen, Gedanken, mit denen er einen Absatz mit dem nächsten – meist distanzierend ironisch – verbinden kann. Damit unterminiert er sein Projekt im Interesse kurzfristiger Gefälligkeit. Die Pointendichte macht es einem manchmal schwer, die Sache selbst noch zu begreifen. Dabei sind Pointen hier wichtig, nicht nur der Unterhaltung wegen. Die Wucht, die Komplexität und auch die Schwere, die einem da vor Augen stehen, wollen auch wieder aufgefangen werden.

Es stellt sich die Frage: Wie ernst nimmt Illies die Kunst, die Menschen, die Leben, die er für uns zitiert? Sind ihm die Künstler aller Sparten am Ende nicht vor allem Lieferanten – ihrer Werke und seiner Pointen? Im Umgang mit den Werken ist das völlig legitim. Aber Illies zitiert eben nicht nur die, sondern auch die nicht selten prekären, mitunter erbärmlichen, oft tieftragischen Umstände, unter denen sie entstanden sind. Das Tragische wird in der Abbreviatur zur Anekdote. Das kann schmunzelndes Einverständnis hervorrufen (»Rilke hat immer noch Schnupfen«). Es kann aber, bei Kafka etwa oder bei Kokoschka, bei Trakl oder Else Lasker-Schüler, auch etwas Frivoles haben.

Als Erzähler bleibt Illies Spieler. Er spielt mit dem Jahr 1913, mit dem 20. Jahrhundert, mit Zitaten, Leben, Werken und mit dem Vorwissen seiner Leser. 1913 ist eine ins Leichte gespielte, sich weitergehender Verantwortung entledigende Variante der sogenannten synoptischen Geschichtsschreibung. Deren bekanntestes Dokument ist der Kulturfahrplan. Sein Autor Werner Stein wurde 1913 geboren. Illies verzeichnet es und setzt davor: »Natürlich«.

»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug«, schreibt Kurt Tucholsky 1913, Arthur Schnitzler zitierend. Illies kommentiert: »Das ist so etwas wie der geheime Code des Jahres 1913.« Es ist auch der geheime Code von 1913.
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1913

Es ist das Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, ein Jahr voller Aufbruch und Energie. Was können wir von ihm lernen? Eine Bildbetrachtung. Von Florian Illies
25. Oktober 2012 09:30 Uhr


Bild
20. September 1913: Ein Zeppelin nach seiner Jungfernfahrt von Friedrichshafen nach Johannistal. | © Getty Images/Henry Guttmann

Wir sehen: vier Männer. Alle haben sich auf ihren Regiestühlen in Pose geworfen. Dieses Quartett hat das Drehbuch in der Hand für das ungeheure Schauspiel, das den Titel »1913« trägt. Oben links Picasso, er verliert 1913 seinen geliebten Hund und seinen verhassten Vater und katapultiert die Kunst mit seinem Kubismus in die nächste Dimension. Daneben Thomas Mann , stocksteif, gravitätisch und doch pure Weltliteratur: 1913 fängt er damit an, seinen Zauberberg zu schreiben, und gleichzeitig erscheint Tod in Venedig . Er ist so begeistert wie verstört über den Erfolg und schreibt: »Eine Nation, in der eine solche Novelle nicht nur geschrieben, sondern gewissermaßen akklamiert werden kann, hat vielleicht einen Krieg nötig.« Hier sieht man, warum dieses Jahr so ein besonderes ist: weil es das Jahr vor 1914 ist, in dem das fatale »Zeitalter der Extreme« beginnt.

Natürlich wissen diese vier Regisseure nicht, wie die Geschichte weitergehen wird. Aber man merkt, dass ihnen mulmig ist. Arthur Schnitzler etwa, dem Herrn mit Bart unten links: Er ist das weise geistige Zentrum Wiens, jener Hauptstadt der Kultur der Vorkriegszeit. Sein Jahr 1913 ist eines der permanenten Ehekrise – und zugleich erlebt er, dass sein Theaterstück Professor Bernhardi wegen Frivolität verboten werden soll. Von ihm aber stammt das geheime Motto jenes Jahres, das an Weihnachten im fernen Berlin Kurt Tucholsky zitieren wird: »Wir alle spielen, wer es weiß, ist klug.« Ja, und dann sitzt unten rechts in der Ecke der vierte Regisseur, der, wie alle besonderen Regisseure, nicht davor zurückschreckt, selbst ins Geschehen einzugreifen. Es ist der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand . Sein fanatischer Blick täuscht nicht, und ebenso wenig, dass man das Gefühl hat, er könne kaum zehn Sekunden ruhig auf einem Stuhl sitzen. Denn genau so war es – er hasst das Warten, weil der österreichische Kaiser seit unglaublichen 65 Jahren regiert und ihm partout nicht das Zepter übergeben will. Deshalb rast er mit einem Auto mit goldenen Speichen durch Wien , ein persönlicher Geschwindigkeitsrausch gegen die scheinbare Ewigkeit des Fin de Siècle. Er versucht den Kaiser das gesamte Jahr 1913 davon abzuhalten, gegen die aufmüpfigen Serben kriegerisch vorzugehen. Das ist mehr als eine bittere Pointe, wenn man weiß, dass seine Ermordung am 28. Juni 1914 durch serbische Nationalisten der finale Auslöser für den Ersten Weltkrieg sein wird.

Doch das alles wissen nur wir, die Nachgeborenen. Wir sehen im Rückblick fatale Entwicklungslinien, wir sehen die Propheten, die vor dem Unheil warnten. Die Zeitgenossen aber, die auf diesen acht Seiten zu sehen sind, die Himmelsstürmer, die in die Luft fliegen, die Damen, die stolz ihre Hüte tragen, sie alle wussten nicht, was kommt. Sie waren einfach mittendrin. Deshalb sind diese Bilder so wichtig: weil sie uns davor bewahren, alles im Rückblick als logisch erklären zu wollen. Denn schaut man auf diese Bilderflut des Jahres 1913, die sich hier ausbreitet, dann sieht man ein großes Stilbewusstsein in Kleidung, in Mode. Man spürt eine große, vorwärtsstürmende Energie. Die Menschen von 1913 waren keine Lemminge, die sich todessehnsüchtig an die Klippen robbten, um abzustürzen. Sie wussten nicht, dass hinter der nächsten Düne der Abgrund wartete.

Was auffällt an den Bildern aus diesem Jahr, ist, wie sich die Menschen dennoch permanent miteinander verbinden und ineinander verkeilen. Auch in Wirklichkeit gab es eine große Verquickung der Hauptdarsteller aus Film, Literatur, Kunst und Psychologie zwischen den Metropolen Wien, Berlin, Paris und München . Und die vier Kunstwerke aus dem Jahr 1913, die am Anfang der Bildstrecke stehen, erzählen davon, dass es bei manchen Malern eine Ahnung gibt von einem gemeinsamen Fallen. Zeigt Edvard Munch in seinem grandiosen Eifersucht- Bild das ganze Drama des Geschlechterkampfes, so ist dieser Sicherheitsabstand bei Oskar Kokoschka ganz aufgehoben. Er malt Die Windsbraut – seine Geliebte Alma Mahler und sich selbst auf einer Leinwand, so groß wie ihr Liebesnest. Wenn er endlich ein »Meisterwerk« schaffe, so verspricht ihm seine Geliebte, dann werde sie ihn heiraten. Dann schafft er es – doch sie zieht weiter, über Kokoschka zu Walter Gropius . Die Windsbraut ist das Gegenbild zu Klimts Frauenbild: In seiner gezuckerten Verzückung ist die Grenze zwischen Traum und Tod fließend, das Ornament wird zum Verbrechen, Männer braucht es nicht mehr. Denn die, so darf man vorausschauend sagen, zieht es ohnehin bald in den Krieg: Das vierte Bild ist das ungewöhnlichste dieses Quartetts. Es ist von Franz Marc , diesem seelenvollen Tierbeschwörer und Pferdeflüsterer. Franz Marc malt 1913 ein einziges Bild, das eine andere Sprache spricht: Es heißt Die Wölfe (Balkankrieg), es ist ein ganz leiser Zweifel, ob es wirklich gelingen kann, den Tieren (und den Menschen?) alles Animalische auszutreiben. Wenig später ist Franz Marc tot – er fällt in einer der barbarischen Schlachten um Verdun .

Das ist unser Wissen, mit dem wir die Bilder des Jahres aufladen. Doch wir sollten uns immer auch auf das Gedankenspiel einlassen, dass alles hätte anders werden können. Dass das Leben weiter hätte daraus bestehen können, sich mit der Familie Filme anzuschauen oder in der Pause des Tennisspiels eine Tasse Kaffee Hag einzuschenken, wie es die grafisch herausragende Werbung dieses Jahres propagiert. Die Werbung zeigt uns etwas, was man nie vergessen darf: Das Jahr 1913 war nicht schwarz-weiß für die Menschen, die in ihm lebten. Es war voller Leben – und sehr bunt. Die Farbfotos auf der letzten Seite dieser Bilderstrecke erzählen davon. Sie zeigen auch ein junges Mädchen am Strand. Es war die Tochter eines englischen Luftfahrtingenieurs, sie hieß Christina. Ihm gelingen am Wochenende in den verträumten Fotos seines Kindes Traumbilder eines friedlichen Europas, das nie zu Ende gehen mag. Montags bis freitags aber arbeitete Lieutenant Colonel Mervyn O’Gorman daran, schlagkräftige Flugzeuge zu bauen, die ein Jahr später im Krieg gegen Deutschland zum Einsatz kommen.

Wir alle spielen, wer es weiß, ist klug. In jenem Jahr 1913 weiß man noch nicht, dass aus dem Spiel Ernst werden kann.

Florian Illies hat über das Jahr 1913 ein Buch geschrieben, es erscheint diese Woche: »1913 – Der Sommer des Jahrhunderts« (S. Fischer Verlag)
Bild
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Grüße vom Galloperflüsterer ohne Galloper

Beda

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